Der Klang der Leere

Autor:Shunyata
Titel:Der Klang der Leere - Die Wirklichkeit des Selbst und der Mythos der Erleuchtung. Themen und Dialoge zur Selbstergründung
Erschienen:Raben Verlag Göttingen 2003
ISBN:978-3-934416-08-6"
246 Seiten, mehrere Abbildungen, broschiert
Preis:21,00 €
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Inhaltsbeschreibung

»Dieses Buch verbindet die wahre überlieferte Lehre der Nicht-Dualität (advaita vedanta) mit der lebendigen Erfahrung eines Herzens, das sich dem Sein vollkommen hingegeben hat. Es erörtert einfühlsam, treffend und in kristalliner Klarheit die Themen, mit denen sich spirituelle SucherInnen heute beschäftigen. Neben Kapiteln wie „Satori" und "Erleuchtung" geht es auf den Weg der Reinen Lehre ein, und es beschreibt in Wiedergabe einzelner Satsang-Sequenzen die Konflikte und Fixierungen, denen sich Menschen auf dem spirituellen Weg gegenübergestellt finden. Aus dem Inhalt: „Einmal im Leben müssen wir anhalten. Wir müssen zumindest für einen einzigen kleinen Moment erfahren, was präsent ist, wenn alles andere aufhört. Wenn alles das, was wir zu unserem täglichen Leben zählen, auch wenn es noch so außergewöhnlich sein mag, sich als vergänglich entpuppt, dann gibt uns die Stille des Rückzugs die Chance, DAS zu enthüllen, was unvergänglich ist. Es ist so wunderbar und heilsam, die direkte Erfahrung der Natur des Geistes, des Selbst oder der einzigen Wahrheit zu machen. Wir widmen uns der Stille und lauschen. Durch vollkommenes Lauschen werden wir des Klangs der Leere gewahr. Sie ist die Wahrheit in Allem, so wie alles im All essentiell leer ist. Absolute Wahrheit ist immer gegenwärtig, sie muß es sein, sonst wäre sie nicht absolut. Überall ist der Klang der Leere, ist OM. Überall ist DAS, was wir sind. Es gibt nichts anderes. Es ist weder verborgen noch geheim. Den Feuerweg der Selbst-Realisierung zu gehen heißt bereitwillig zu sein, überall den Klang der Leere zu hören, überall OM zu erkennen, überall als einzelnes Ego zu verbrennen und die Wahrheit zu sein.«

Leseprobe

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»Was auch immer es dir bedeutet, dieses Buch zu lesen, mit welcher Frage du auch immer hier bist: die einzige Frage, die dich an jenen Ort bringt, aus dem das wahre Bedürfnis, die wahre Motivation, hier zu sein, aufgestiegen ist, ist die Frage: Wer bin ich eigentlich wirklich? Menschen neigen dazu, auf verschiedene Weise eine Antwort auf diese Frage zu suchen. Es gibt Unmengen von Systemen und Konzepten, die versuchen, eine Antwort anzubieten.

Aber die Frage selbst ist einfach nur ein Anzeiger. Wenn du jetzt in diesem Moment - statt dieser Frage nach außen in irgendeine Suche, in irgendeine Antwort, in irgendein System, in irgendeine Technik zu folgen, weil du dir davon möglicherweise versprichst, am Ende zu einer Antwort zu kommen - wenn du in diesem Moment die Frage und damit die Bewegung umdrehst, jetzt, die Frage selbst nach innen fallen läßt, zurück in ihren Ursprung: was passiert dann?

Es gibt zwei Möglichkeiten. Du kannst dir vorstellen, innen zu suchen. In diesem Fall wird der Mind nicht befriedigt sein. Aber du hast gesehen, daß der Mind noch da ist. Wenn du dir vorstellst, innen zu suchen und die Suche weitergeht, dann siehst du, daß dieses Innen nur eine Vorstellung ist. Und jede Antwort, die daraus auftaucht, ist ebensowenig das, was du bist, also ist sie keine wirkliche Antwort.

Die Frage treibt dich weiter. Das, was du für innen hältst und das, was du für außen hältst, kannst du absuchen. Du triffst unterwegs sicher viele interessante Dinge. Vielleicht nennst du sie Erkenntnisse, vielleicht nennst du sie Enthüllungen, vielleicht nennst du sie Begegnungen, was auch immer. Und sie sind in ihrer Zeit sicher interessant und hilfreich.

Aber gibt es eine einzige Antwort, die wirklich, wirklich deine tiefe Sehnsucht befriedigen kann? Jetzt, in diesem Moment - und es gibt immer nur diesen Moment - jetzt in diesem Moment, wenn du einfach anhältst, genau hier - gibt es eine Antwort? Du hältst an, indem du bereitwillig bist zu gucken, was wirklich da ist, wirklich Jetzt Hier. Du hälst an, indem du aufhörst, irgend etwas zu suchen. Dann hast du die Frage gut genutzt.

Und du wirst sehen: Im Anhalten, im selben Moment des Anhaltens, ist die Frage verschwunden. – Die Frage ist verschwunden, die Suche nach der Antwort ist verschwunden. Beides bedingt sich gegenseitig. Wenn also eine Antwort da wäre, könnte die Frage nicht verschwinden. Die Antwort, die da ist, läßt eine weitere Frage entstehen, läßt die Suche weitergehen. Solange es Antworten gibt, gibt es wieder Fragen. Wenn es Fragen gibt, geht die Suche weiter. Wenn die Suche weitergeht, bist du nicht still. In Bewegung erkennst du Mind. Mind ist dualistisch. Dualismus heißt Frage und Antwort. Beides gleichzeitig.

Wir erkennen es nicht gleich, weil wir uns zunächst an die Frage klammern und vielleicht auch eine Weile an irgendeine Antwort, die gerade in dem Moment ganz gute Erklärungen zu liefern scheint. Und dann, ein paar Tage später, ist die Antwort überholt. Das ist das Wesen von Wissenschaft: Das, was heute wahr ist, konnte man sich gestern noch nicht vorstellen. Das, was gestern wahr war, ist heute lange überholt. Wir erleben das nacheinander: Frage – Antwort – Frage – Antwort. Im Anhalten, wenn die Frage verschwindet, verschwindet die Antwort. Beides verschwindet. In dem Moment, in dem es keine Frage mehr gibt, ist die Suche nicht mehr nötig. Dann ist auch Mind nicht mehr nötig. Mind ist nur nötig, so lange Dualismus existiert. Dualismus ist Mind. Das Eine-ohne- zweites kann nie gefunden werden. Das Finden selbst ist ja ein Akt. Zu einem Akt gehört jemand, der handelt. Das ist also schon ein Zweiter. Also, wenn der dualistische Mind verschwindet, sich auflöst, indem sich Frage und Antwort auflösen, offenbart sich in diesem Anhalten eine neue Ebene.

Der dualistische Mind ist manas. In dem Moment, in dem diese Ebene sich auflöst, offenbart sich buddhi, das intuitive Erkennen. Das ist noch nicht advaita, das ist noch nicht das Eine-ohne-zweites. Aber es ist ein Erkennen, das jenseits der Ebene der dualistischen Prinzipien führt. Das ist ein Erkennen, was schon leuchtet. Und wir erkennen darin eine Richtung. Buddhi ist der Abglanz von Brahman. Buddhi, das intuitive Erkennen, das intuitive Sehen, ist der Abglanz, der Widerschein des Einen-ohne-Zweites, dieses Lichts, das Wahrheit ist. Es ist erst der Widerschein, aber es ist der richtige Wegweiser. Das ist sehr wichtig, es so zu formulieren und es auch wirklich zu verstehen.

In vielen heutigen spirituellen Gruppen heißt es gern: "Ich folge meinem Herzen." Im tiefsten Kern ist damit das gemeint, was durch die buddi erschlossen wird. Aber "Ich folge meinem Herzen" bedeutet nicht: "Ich folge meinen Gefühlen", doch damit wird es gern verwechselt. Das Gefühl hat nichts mit dem intuitiven Erkennen zu tun. Das Gefühl ist einfach Gefühl, genauso Mind wie Denken, aber auf einer anderen Ebene, nämlich der des Emotionalkörpers. "Gefühl" bedeutet einfach ein emotionales Erfassen dessen, was ich-manas jetzt will, während buddhi ein intuitives Erfassen dessen ist, was jetzt stimmt.

Wir folgen also zunächst unserer relativen Wahrheit, indem wir das Ohr schärfen. Es nützt nichts, dazusitzen und auf die große Stimme zu warten, die irgendwann sagt: "Geh diesen Weg!"; auf den großen Gong zu warten, der die richtigen Handlungen einleitet, die richtigen Weichen stellt. Es braucht auch ein Ohr, das diese Botschaften hören kann. Und es braucht eine Integrität, die den Botschaften dann folgt.

Wie können wir dieses Ohr schärfen? Wie können wir diesen Sinn, der nach innen lauscht und schaut, schärfen? Indem wir unterscheiden, was wahr ist und was nicht wahr ist. Nicht im Sinne von: Wer hat recht und welche Geschichte stimmt mehr, wer erinnert sich besser an das, was vorgestern gesagt wurde? Sondern im Sinne von: Was hat Bestand, und was ist vergänglich? Dann können wir sagen: Gedanken sind vergänglich, Gefühle sind vergänglich, Körper sind vergänglich, Umstände sind vergänglich, Zeit vergeht, Räume verändern sich. Alles das ist es nicht.

Das, was nicht vergeht, läßt sich nicht beschreiben. Aber das macht nichts, weil das, was vergeht, sich beschreiben läßt und dadurch ausschließbar ist. Ganz konkret gesprochen: Wenn wir sitzen und meditieren, und es kommt ein Gedanke, ein wunderbarer großartiger, nicht einer von diesen schlechten, die man sowieso überwinden möchte, sondern ein wunderbarer, großartiger, einer, der romantauglich ist, sehen wir doch sehr einfach: dieser Gedanke kommt und vergeht und zeigt dadurch deutlich seine Nicht-Wirklichkeit. Wenn wir sitzen und meditieren, erleben wir vielleicht ein Gefühl erhabenster Ekstase. Wunderbar! Halten wir daran fest, wird die erhabenste Ekstase zum Gefängnis!

Die Kriterien sind sogar beschreibbar: Wir schärfen unser Ohr und unser Sehen, indem wir bereit sind, alles das, was wir in dem Moment vielleicht auch noch so gerne als wahr annehmen möchten, wirklich zu erkennen, und dann können wir sehen, daß es nämlich nicht wirklich ist, es ist vergänglich, eine Erscheinung! Und das ist wunderbar!

Wir können uns sicher entscheiden, einer bestimmten Erscheinung treu zu sein. Für viele ist das wichtigste in ihrem Leben die Familie. Warum nicht? Es ist doch nichts falsch daran. In dem Moment, in dem wir uns entscheiden, für die Familie zu leben, und diesem Inhalt unseres Lebens 100% zu geben, wo sollte da Leid sein, Verzweiflung, Lügen? Kein Problem. Es ist nichts verkehrt daran.

Wenn wir jedoch wissen wollen, wer wir wirklich sind, wenn wir Wahrheit erkennen wollen, und das, was wir erkennen, sein, dann ist der Einsatz von unserer Seite ebenfalls, diesem Weg des Erkennens und der Wahrheit 100% zu geben. Und das bedeutet, alles, was nicht wahr ist, auszuschließen. Wir folgen dieser intuitiven Erkenntnis, wir folgen diesem Widerschein Brahmans und schärfen unser inneres Ohr. Indem wir uns nicht verführen lassen, indem wir uns nicht wieder ablenken lassen, folgen wir der Wahrheit. – Und das ist sehr subtil, der Mind hat unglaublich kluge, subtile Mechanismen und Ablenkungen, so subtil! Der Körper hat ein Bedürfnis, und der Mind sagt: "Hey, komm, das ist doch ganz natürlich, mein Gott, der Körper muß jetzt eben dies und jenes tun. Mach dir keine Sorgen. Nimm's leicht. Genieß das doch einfach." Und er verpackt das so geschickt, und das fühlt sich so gut an, und es hört sich so überzeugend und so logisch an. Ja, das sind die Versuchungen. Das erinnert an den berühmten Satz "Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach." Nehmen wir nur eine Emotion, die uns nach außen zieht, um befriedigt zu werden. Wie ist es dem Buddha ergangen, als er unter dem Baum saß? Als die schönen, verführerischen Tänzerinnen an ihm vorbeikamen und ihn lockten: "Hey! Jetzt ist es aber genug. Du hast dich so lange schon angestrengt. Jetzt darfst du mal genießen. Gott möchte, daß du dich freust! Daß du glücklich bist. Was ist schon dabei? Nur dieses eine Mal." Und – ja, natürlich! Es ist ja nichts falsch daran.

Doch es geht nicht um die Frage: Ist es richtig oder ist es falsch? Wer kann das schon entscheiden? Aber wenn das, was wir absolut wollen, Wahrheit ist, und wenn in diesem Moment das, was wir wollen, die Schärfung des inneren Ohres, des inneren Auges ist, wenn es in diesem Moment darauf ankommt, in Integrität, in Klarheit diesem Willen, dieser Absicht treu zu sein, dann hat uns der Mind gekriegt, wenn wir auf das andere eingehen. Und es ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß es zwei gibt, die da sitzen. Einer, der eine bestimmte feste Absicht hat, und ein anderer, der ihm von der Seite etwas einflüstert. Zunächst ist das ganz normal, der Mind läuft einfach weiter. In dem Moment, in dem wir uns entscheiden, still zu sein, in dem Moment, in dem wir wirklich diese Verpflichtung mit uns selbst, für uns selbst, für unser Herz eingehen, ist es ganz normal, daß der Mind zunächst weiterläuft. Das ist einfach der karmische Schwung aus so vielen Inkarnationen. Er kann nicht sofort anhalten. Wenn wir keinen Schwung mehr in das Mühlrad geben, dreht es sich einfach noch. Das ist ganz normal.

Da sind also diese Stimmen, die von der Seite kommen: "Ich hab etwas schönes für dich, komm, kleine Pause, nur diese eine Lüge, nur diese eine Notlüge, und dann kannst du zurückkehren zur Wahrheit!" Wenn wir das persönlich nehmen, dann sind zwei da. In dem Moment, in dem erkannt wird, daß es sich um dieses Radio handelt, das da oben noch weiterläuft, und wir das nicht persönlich nehmen, wen sollte es stören? Geben wir ihm keine Nahrung, wird es immer dünner und verhungert. Mit wirklicher Bereitwilligkeit ist sehr klar und deutlich zu sehen, wo der sogenannte Weg entlangführt. In der wirklichen Bereitwilligkeit anzuhalten, still zu sein und zu finden, was wir sind, ist immer Hilfe da. Und jeder Mensch weiß im Innern ganz genau, welches die Versuchungen sind.

Hilfe ist da. Wir fragen um Hilfe, sie wird uns nicht extra gegeben, denn sie ist einfach da! Die Frage, die Bitte enthüllt ihr Dasein. Hilfe ist hier! In dem Moment, in dem wir uns für das Selbst, für Wahrheit entscheiden, haben wir alle Buddhas der Welt auf unserer Seite. Hilfe ist immer hier. Sie wird gezeigt, und dann kommt es darauf an, wie integer wir sind. Dann steht die Integrität auf dem Prüfstand, mit der wir diesem Zeigen von Hilfe antworten. Erscheint uns das, was sich uns anbietet, als zu schwierig? Ist es nicht das, was wir uns vorgestellt haben, ist es unangenehm, lehnen wir dankend ab? Wenn das so ist, wenden wir uns gar wieder der Suche zu, weil wir vielleicht mit der Möglichkeit rechnen, es könne ein angenehmerer Weg auftauchen? Oder sehen wir, erkennen wir, daß die Hilfe, die jetzt hier ist, genau das ist, was wir in diesem Moment brauchen, genau das, worum wir gebeten haben? Exakt, es ist tatsächlich 100% Deckungsgleichheit. Es ist niemals weniger!

Ist da Bereitwilligkeit, das zu sehen und die Liebe zu sehen, die sich damit zeigt, die Liebe unseres eigenen Selbst, die Liebe, die wir sind? Du bist es, du Selbst, du zeigst dir diesen Weg. Du-Selbst erbarmst dich deiner, all dieser verwirrten Anteile, dieser vorgestellten verwirrten Anteile, die zurück wollen nach Hause. Und die Liebe, die darauf antwortet, antwortet zum Beispiel mit dem Schärfen der Sinne, um das zu verstehen, was wirklich gesagt wird. Es ist manchmal eine sehr leise Stimme, viel leiser als das, was im Weltengetummel, auf dem Marktplatz, drumherum tost. Aber diese Stimme spricht überall. Sie singt, singt das Lied der Freiheit. Und es klingt sogar in der Hölle, dringt durch alle Vorstellungen.

Es ist immer so, daß wir es hören. Immer. Folgen wir diesem ersten Widerschein des Wahren, folgen wir dieser buddhi, dann können wir die Fixierung, der wir unser Leben lang hinterhergerannt sind, diesen zweiten Ring, den wir um uns tragen, transzendieren. Dann wird jede Situation, jeder Moment, jede Handlung, jede scheinbare Bürde zum Tor.

Der nächste Abschnitt ist dann die Enthüllung der wirklichen Essenz, die sich die ganze Zeit schon darunter versteckt hat, und die wir manchmal im stillen Kämmerlein zuhause für uns alleine spüren, wenn wir da sitzen und uns fragen, warum uns denn niemand erkennt, warum denn niemand das sieht, was wir so gerne zeigen möchten. –

Wenn wir unserer Angst begegnen und erkennen, daß das Auftauchen von Angst Hilfe ist, wenn wir dann also Angst nicht vermeiden, nicht dagegen kämpfen, sie nicht zu beherrschen versuchen, nicht vor ihr weglaufen, sondern ihr begegnen, ganz direkt in dem, was sie ist, dann folgen wir dem klügeren Anteil. Der klügere Anteil weiß: Das ist die Hilfe, die wir gerufen haben. Wir lernen Angst von innen her kennen. Vielleicht fallen wir sofort in die Stille, die wir sind. Dann erkennen wir: Die Essenz dahinter ist Mut! Der Mut nämlich, mit dem wir der Angst begegnen.

Wir hören Leute sagen, daß sie ja möchten, aber daß die Angst im Wege steht und sie abhält. Sie machen die Angst dafür verantwortlich, daß sie den Weg nicht weitergehen oder daß sie sich nicht einlassen, daß sie ihren Erfahrungen nicht begegnen. Sie machen Angst dafür verantwortlich, daß sie keinen Mut haben. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, Mut zu haben in der Angst! Wenn Angst nicht da ist, dann brauchen wir keinen Mut. Dann geht es nämlich sowieso leicht. Gehen in Integrität baut auf dieser Essenz dahinter auf, auch wenn in dem Moment weder die Verbindung gespürt wird noch der Mut sich zeigt, aber wir folgen trotzdem dem Wissen, sind dem tieferen Wissen treu. Das ist etwas anderes, als davor wegzulaufen.

Genau dasselbe gilt für Haß. Wir können so tun, als wären wir freundlich. Wir können versuchen, nette oberflächliche Beziehungen zu allen möglichen Menschen zu haben. Vielleicht machen wir uns sogar selbst vor, liebenswerte Menschen zu sein. Was dadurch vermieden wird, ist die Konfrontation mit Haß. Die Vermeidung beruht auf der Idee, daß es vielleicht, wenn wir diesem Haß begegnen und ihn wirklich zulassen, nichts mehr gibt; gar nichts mehr, daß wir, so wie wir uns definiert haben, ausgelöscht werden, daß es nur noch Haß gibt. Das könnte heißen, wir können nie wieder unser Gesicht zeigen, wir sind auf ewig verdammt. Aber die Treue zu dem, was dahinter ist, die Treue zum Herzen, die läßt uns diesem Haß begegnen. Da spricht die reine Essenz der Seele, die eigentlich in uns tönt, die ihren ganz eigenen Klang hat. Diesen Klang können wir in jeder Sekunde unseres Lebens hören. Wir können immer den Klang von Mut hören, wenn wir Angst haben. Aber wir könnten so tun, als wäre er nicht da, und das dann als Begründung nehmen, der Angst zu folgen. Wir können immer den Klang von Freude oder von Liebe hören, auch wenn sich auf der Oberfläche Haß zeigt. Wir könnten den Haß benutzen, um so zu tun, als gäbe es keine Liebe. Wir können in der Lüge immer den Klang der Wahrheit hören. Aber wir könnten die Lüge benutzen, um so zu tun, als wäre Wahrheit nicht möglich.

Dahinter steckt die Unwilligkeit, jene Konsequenz zu erfahren, die sich in dem Moment ergeben könnte, in dem wir zu dem stehen, was als Erfahrung hier ist. Ohne die Begegnung in der direkten Erfahrung ist das Hören des Klangs, des wahren Klangs nicht möglich. Das bedeutet, das Ohr zu schärfen. Egal, was auch immer an Gedanken oder Gefühlen auf der Oberfläche auftaucht, egal, was auch immer an Wellen auftaucht im Meer: Das Ohr können wir schärfen für die Tiefe. Das heißt nicht, dazusitzen und zwanghaft nach dem Hintergrund zu suchen, zwanghaft zu graben und zu buddeln: "Es muß doch noch etwas dahinter geben!" Das bedeutet es nicht. Es geht nicht darum, etwas zu tun. In diesem Buddeln und in diesem Graben ist ja schon wieder das Vermeiden der Erfahrung: "Oh, hier ist Haß, ah ja, dann buddele ich mal ein bißchen. Irgendwo muß doch Liebe sein." Darum geht es nicht. Tatsächlich ist es so, daß wir, wenn wir nicht den Klang von Liebe hören würden, dem Haß nicht begegnen könnten. Wenn wir nicht den Klang von Wahrheit hören könnten, könnten wir der Lüge nicht begegnen.

Um den Klang der wahren Essenz zu hören, brauchen wir Bereitwilligkeit. Die Bereitwilligkeit, den Mind zu öffnen, um das Herz, das immer offen ist, zu sehen. Zu behaupten, es gibt nur Lüge, ist Lüge! Zu behaupten, es gibt nur Haß, ist Lüge. Zu behaupten, es gibt nur Angst, ist Lüge. Das mag so aussehen. Die Lüge liegt einfach im Übersehen dessen, was immer hier ist. Was ist das, was du jetzt wahrnimmst in diesem Moment? Was nimmst du wahr? Vielleicht nimmst du ein klopfendes Herz wahr. Aber das ist nicht alles. Vielleicht nimmst du das Ticken der Uhr wahr. Vielleicht nimmst du ein Gefühl von Beunruhigung wahr, vielleicht eine mentale Aktivität von Vermeidung, von Abwehr. Vielleicht etwas, was dich ruft, ein Brennen in deinem Herzen. Vielleicht eine Präsenz von Stille. Wenn du deine Aufmerksamkeit auf eins von diesen legst und alles andere ausschließt, kann das zur Lüge werden. Die Essenz von Stille ist immer da. Das ist der Klang. DAS einmal zu realisieren, ist mehr, als man erwarten kann. DAS einmal wirklich zu realisieren, ist das Geschenk eines Lebens. Integrität bedeutet, dem treu zu sein auch dann, wenn du dir vorstellst, daß ES nicht mehr da ist. Auch dann, wenn deine Aufmerksamkeit so mit anderen Dingen beschäftigt ist, daß du glaubst, die Verbindung dazu verloren zu haben. In dieser Bereitwilligkeit ist eine Öffnung für jede Erfahrung. Die Öffnung, jeder Erfahrung zu begegnen. Und die Belohnung ist, immer tiefer zu fallen, tiefer in diese Stille.

Im Laufe dieses Fallens passiert etwas sehr Geheimnisvolles, etwas sehr Mysteriöses. Die Erfahrung mit dem Herzen verwandelt sich, und alles das, was wir früher an Gefühlen dort zentriert gefunden haben, wird unwichtig. Alles das, was im Emotionalkörper an gefühlsmäßigen Verwirrungen da war, was uns im Zuge des karmischen Schwungs heimgesucht hat, als samskara, als latente Neigung, die ausgelebt werden wollte und uns immer wieder angetrieben hat, das wird verbrannt. Das Feuer enthüllt die Reinheit von Liebe. Der Verstand, der uns mit Gedanken bombardierte, verlangsamt sich. Der Mind, der manasische Geist, verlangsamt sich, das heißt nicht, daß wir langsamer denken – manchmal hat es den Anschein. Die Bewegung, aus der der Mind besteht, verlangsamt sich immer mehr. Der ganze Geist klärt sich dadurch. Das Feuer brennt im Mentalkörper und reinigt auch ihn. Was übrig bleibt, wenn Unwissenheit verschwindet, ist das wahre Wissen, Weisheit. Das Mysterium ist, daß diese beiden sich durchdringen, daß also die Grenzen zwischen den Körpern aufgehoben werden, sie durchdringen sich. Liebe und Weisheit enthüllen sich als eins.

Indem wir den Gewohnheiten folgen, indem wir nach außen gerichtet sind, erleben wir die Trennung von Kopf und Herz, von Gefühlen und Gedanken, von Vernunft und emotionalem Hingezogensein. In diesem Verbrennen und Reinigen, in diesem Tieferfallen verbinden sich diese Körper, sie durchdringen sich gegenseitig und reinigen sich dadurch noch tiefer. Die Essenz aller Dinge wird reiner, sattvischer. Die Klarheit wird klarer. Tiefe wird tiefer. Das Ohr hört noch besser. Der Klang wird harmonischer. So lange, bis dieses Ohr den Urklang hören kann. Und dann ist das Ohr verschwunden. Dann ist nur noch Wahrheit.

Alles beginnt, indem wir dem begegnen, was sich jetzt hier enthüllt (auf der Ebene der Erscheinungen). Wie auch immer es heißt. Begegnen bedeutet anhalten. Anhalten bedeutet aufhören, in den Vorstellungen zu graben, bedeutet aufhören, beherrschen zu wollen, bedeutet aufhören, auszuagieren, um etwas los zu sein. Anhalten bedeutet die Bereitwilligkeit zu sterben. Wenn das, was angehalten hat, gestorben ist, sich aufgelöst hat, wird der ganze Raum genommen vom Selbst. Dann können wir realisieren, daß das, was in Wahrheit HIER ist, immer nur das Selbst war.«

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